„Für unsere Klient*innen sind wir der wichtigste soziale Bezugspunkt.“

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Die Alternative I ist seit 27 Jahren fester Bestandteil des Suchthilfesystems der Stadt Leipzig. 2018 beteiligte sie sich an einem Expertenaustausch zu Harm Reduction in Thailand. Im Kontext einer von der GPDPD initiierten Studienreise besuchte eine Delegation aus Myanmar die Einrichtung. Anna Wegener, Suchttherapeutin und Leiterin der Einrichtung, und Karsten Kriebitzsch, Streetworker, arbeiten seit vielen Jahren bei der Alternative I. Im Interview sprechen sie darüber, mit welchen Problemen ihre Klient*innen tagtäglich konfrontiert sind, welche zentrale Rolle niedrigschwellige Angebote dabei spielen und - besonders aktuell - wie sich die globale Pandemie auf das Leben drogenkonsumierender Menschen auswirkt, die auf der Straße leben.

GPDPD: Die Suchtberatungs- und Behandlungsstelle Alternative I ist in Leipzig ansässig. Wie sieht es dort mit dem Drogenkonsum aus?

 

Karsten Kriebitzsch (KK): Hier in Leipzig arbeiten wir hauptsächlich mit Klient*innen, die polytoxikomane Konsummuster aufweisen. Das bedeutet, sie konsumieren nicht nur eine, sondern mehrere Substanzen und das gerne auch gleichzeitig. Besonders viele nehmen Crystal Meth.

 

Hat sich die Lage im Zuge der COVID-19-Pandemie verändert?

 

KK: Diese Zeit hat zu Verunsicherungen und Ängsten unter den Betroffenen geführt. Viele Einrichtungen mussten ihre Hilfeangebote einschränken oder einstellen. Infolgedessen konnte die notwendige Unterstützung nicht in ausreichendem Maße gewährleistet werden. Das betraf besonders Menschen, die auf der Straße leben. Für sie war es schwierig, finanzielle Mittel zu erwerben und an Lebensmittel zu kommen.

 

Anna Wegener (AW): Die Stadt Leipzig reagierte in der Krise sehr schnell und richtete Notschlafgelegenheiten ein, die kostenfrei und ohne Zugangsbeschränkungen genutzt werden konnten. Zusätzlich hat das Sozialamt für die Bewohner*innen der Übernachtungshäuser drei feste Mahlzeiten pro Tag gestellt. Die Kooperation mit den Ämtern verlief überwiegend sehr positiv, gestellte Anträge wurden unbürokratisch und schnell bearbeitet.

 

Schwieriger ist es, nun wieder zurück zur Normalität zu finden. Die Betroffenen haben häufig multiple Problemlagen. Um ein Beispiel zu nennen: Kaum eine*r hat ein Bankkonto. Sie bekommen das Arbeitslosengeld per Scheck. Um den einzulösen, benötigen sie einen Ausweis. Häufig haben sie diesen verloren oder wurden bestohlen. Für einen neuen Ausweis brauchen sie einen Termin auf dem Bürgeramt. Dieser ist nur langfristig online buchbar. Da es immer noch kompliziert ist, persönliche Termine bei Ämtern und Institutionen zu erhalten, bedeutet das aktuell einen zeitlichen Mehraufwand.

 

KK: Außerdem ist es für uns als akzeptierend arbeitende Einrichtung schwierig, den niedrigschwelligen Zugang wieder ganz zu gewährleisten, da wir unsere Arbeit den bestehenden Corona-Schutzverordnungen anpassen müssen. Hier ist besonders die Straßensozialarbeit betroffen.

 

Wer sucht Ihre Einrichtung am häufigsten auf? Mit welchen Schwierigkeiten sind diese Menschen konfrontiert?  

 

KK: Der Altersdurchschnitt in unserer Einrichtung liegt zwischen 30 und 40 Jahren. Die Hauptdrogen sind Alkohol, Cannabis, Crystal Meth, Heroin und Benzodiazepine. Unsere Klient*innen injizieren und/oder inhalieren vorwiegend (abgesehen von Cannabis und Alkohol). Szeneangehörige und Sozialarbeiter*innen sind für sie der wichtigste soziale Bezugspunkt, da häufig kein Kontakt zu Familie oder Freund*innen, die nicht konsumieren, besteht.

 

AW: Die akutesten Probleme sind: fehlender preisgünstiger Wohnraum, mangelnde Gesundheitsversorgung und finanzielle Schwierigkeiten. Diese bestimmten das Leben unserer Klient*innen aber auch schon vor der Corona-Krise.

 

Welches Ziel verfolgen Sie in ihrer Arbeit?

 

AW: Unser Ziel ist es, Lebens- und Überlebenshilfe für Betroffene zu gewährleisten. Wir sind 24 Stunden am Tag Ansprechpartner*innen für Betroffene sowie deren Angehörige und Freund*innen, um in persönlichen Krisen zu begleiten und beratend zur Seite zu stehen. Durch unsere Safer-Use-Angebote und -beratung möchten wir dazu beitragen, die Verbreitung von Infektionskrankheiten und riskanten Konsum zu minimieren.

 

Wie erreichen Sie das?

 

KK: Unsere Einrichtung bietet rund um die Uhr Krisenintervention. Unser Kontaktcafé mit Ernährungs- und Hygieneangeboten ist täglich geöffnet. Wir bieten eine Notschlafstelle an, wir tauschen und vergeben saubere Konsumutensilien, wir leisten Suchtberatung und vermitteln weiterführende Angebote. Bei uns können Betroffene ohne Wohnsitz Postfach und Telefon benutzen. Außerdem ist unsere Einrichtung ein allgemeiner Schutzraum für die Klient*innen.

 

Wie setzen Sie das Konzept der Schadensminderung um?

 

AW: Wir vergeben und tauschen saubere Spritzen, Nadeln und Pumpen nach den Qualitätsstandards der Deutschen AIDS-Hilfe. Des Weiteren bieten wir eine fachliche Beratung zu Safer Use an. Für unser Fachpersonal finden regelmäßig Weiterbildungen und Schulungen statt.

 

Können Sie Beispiele nennen, wie Menschen konkret von Ihren Angeboten profitieren?

 

AW: Menschen finden in unserem Haus eine Unterkunft für die Nacht. Wir vermitteln und begleiten sie in medizinische Versorgung und auf Ämter. Sie werden beraten und unterstützt, um eigene Perspektiven zu entwickeln. Wir sehen kleine Veränderungen als Erfolg an: Etwa wenn Klient*innen sauberes Besteck zum Konsum verwenden, ihr gebrauchtes Spritzbesteck wieder zur Entsorgung bringen, nicht mehr auf der Straße schlafen, sondern Übernachtungsangebote nutzen, wieder krankenversichert sind und sich um ihre gesundheitlichen Belange kümmern, sich selbst wieder wichtig sind. Die Anzahl der getauschten und ausgegebenen Konsumutensilien, wie Spritzen, Nadeln und Pumpen steigt seit Jahren kontinuierlich.

 

Die Alternative I leistet in Leipzig auch Streetwork. Wie wird das Angebot angenommen?   

 

KK: Die Betroffenen nehmen unser Angebot sehr gut an. Einige Menschen nutzen unsere Busstandzeiten, das heißt die festen Angaben, wann unser Bus wo steht, um ihren Tag zu strukturieren. Die Stadtverwaltung und die Strafverfolgungsbehörden stehen uns wohlwollend gegenüber, sehen die Sozialarbeit auf der Straße als wertvolles Angebot. Kritische Stimmen gibt es immer, da oft die Erwartungen und die realen Möglichkeiten auseinandergehen. Das gehört dazu und gibt auch Anregungen zur kritischen Reflexion und Verbesserungen.

 

Wie ist die Zusammenarbeit mit der Stadt und den Strafverfolgungsinstitutionen?

 

KK: Aus unserer Sicht hat sich die Zusammenarbeit mit der Stadt und den Institutionen der Strafverfolgung seit Jahren verbessert. Unsere Arbeit wird positiv wahrgenommen und stärker geschätzt. Wesentlich sind Transparenz und respektvolle Kommunikation untereinander. Es gibt immer Potential zu Verbesserungen in diesem Bereich. Ein wichtiger Teil der Sozialarbeit ist es, die Interessen der Adressat*innen zu vertreten und entsprechende Angebote gemeinsam mit allen Beteiligten zu schaffen.

 

Sie haben Suchthilfe-Expert*innen aus Thailand und Myanmar beraten und sich mit ihnen ausgetauscht. Welche Erfahrungen konnten Sie daraus ziehen und haben Sie davon profitiert?

 

AW: Das Interesse der Expert*innen aus anderen Ländern hat den Blick der Stadt auf unsere Einrichtung und deren Angebote nachhaltig positiv beeinflusst. Wir konnten natürlich auch feststellen, dass die Drogenpolitik hier trotz aller Schwierigkeiten doch sehr an den Bedarfen der Klient*innen ausgerichtet ist und die Hilfeangebote gut ausgebaut sind. In der Regel wird hier auch weniger auf Repression gesetzt.

 

Was ist Ihre dringendste Aufgabe in Zeiten der Pandemie?

 

KK: Es ist besonders wichtig, den Betroffenen zur Seite zu stehen, Ängste abzubauen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie trotz der entfallenden Angebote nicht mit ihren Problemen allein gelassen werden. Aus unserer Sicht ist es notwendig, die Angebote wieder vollständig zu gewährleisten.  

 

Wird die aktuelle Situation Ihre Arbeit nachhaltig verändern?  

 

AW: Wir sind besorgt, dass im sozialen Bereich eingespart werden könnte. Wir fürchten, dass darunter unsere Pläne für eine Erweiterung unseres Angebots nicht verwirklicht werden könnten, auch wenn wir dringenden Bedarf sehen.

Die Alternative I

Seit 1993 ist die Alternative I fester Bestandteil des ambulanten Suchthilfesystems der Stadt Leipzig. Die Einrichtung arbeitet mit drogenkonsumierenden Menschen, die im Verlauf ihres oft langjährigen Konsums multiple Problemlagen aufweisen. Das Gesamtkonzept vereint niedrigschwellige, risikomindernde Hilfen sowie Angebote zur Entwicklung und Förderung von Veränderungsmotivation. Außerdem vermittelt die Alternative I ihre Klient*innen in weiterführende Hilfen mit ausstiegs-, abstinenzorientierten und -stabilisierenden Angeboten. Die Hilfen werden an zwei Standorten mit abgestuften Betreuungsschwerpunkten umgesetzt. Drei ineinandergreifende Akuthilfebereiche werden angeboten: ein Kontaktbereich, eine Notschlafstelle und Kriseninterventionsmaßnahmen wie beispielsweise niedrigschwellige suchtspezifische sozialpädagogische Interventionen.