„Viele Regierungen glauben nicht an den Erfolg, bis sie ihn sehen.“
Helgar Musyoki ist Spezialistin für öffentliche Gesundheit. Sie hat mehr als 15 Jahre Erfahrung in der Umsetzung von Programmen zur Bekämpfung von HIV und arbeitete als Programmkoordinatorin des Nationalen Programms für AIDS und sexuell übertragbare Krankheiten in Kenia. Zu den zahlreichen wirksamen Maßnahmen, die sie initiierte, gehörten auch solche der Schadensminderung. Derzeit ist sie Beraterin für Schlüsselpopulationen beim Global Fund, einer internationalen Initiative zur Beendigung der Verbreitung von AIDS, Tuberkulose und Malaria. Im Interview mit GPDPD erklärt sie, welche verschiedenen Aspekte bei der Umsetzung von Schadensminderung berücksichtigt werden sollten und was wir vom kenianischen Beispiel lernen können.
GPDPD: Warum ist es so wichtig, Schadensminderung in nationale Politiken zu integrieren?
Helgar Musyoki: Die meisten Länder setzten auf Ansätze, die auf Abstinenz basieren und in der Vergangenheit nicht besonders erfolgreich waren. Stattdessen sollten wir Ansätze umsetzen, von denen wir wissen, dass sie funktionieren – evidenzbasierte Schadensminderung. Diese sind in der Regel unpopulär und erfordern viel Fürsprache und Lobbying. Sie bedürfen eine Regierung, die sich zur Umsetzung der Maßnahmen verpflichtet und Daten generiert, die den positiven Effekt von schadensmindernden Maßnahmen vermitteln.
Ein wichtiger Aspekt ist außerdem Nachhaltigkeit. Die meisten Programme zur Schadensminderung sind stark von externen Geldgebern abhängig. Viele Länder würden Maßnahmen der Schadensminderung begrüßen, sind jedoch nicht dazu bereit, Geld dafür auszugeben. Daher ist es wichtig, dass Ansätze der Schadensminderung in die nationale Politik eingebettet werden, damit sie als Teil des staatlichen Haushalts entweder auf nationaler oder lokaler Ebene einkalkuliert und in das öffentliche Gesundheitssystem sowie die medizinische Grundversorgung integriert werden können. Wir müssen deutlich machen, dass Schadensminderung jeden etwas angeht. Wenn wir das schaffen, hilft das, die Programme weiter auszuweiten. Und schließlich brauchen wir nationale Politiken, die ein förderliches Umfeld schaffen. Ein Umfeld, in dem Kooperationspartner, Gemeinschaften und Menschen, die Projekte umsetzen, darauf vertrauen können, dass die Regierung sie unterstützt. Schadensmindernde Ansätze kommen mit Verhaltensweisen in den Kontakt, die in vielen Ländern kriminalisiert sind. Wenn also die Regierung Führung übernimmt, sehen die Gemeinden, Geberorganisationen und die Menschen vor Ort, dass die Maßnahmen zur Schadensminderung ernstgenommen und in die Politik eingebettet werden.
Was ist das Key Populations Programm und welche Rolle spielt Drogenkonsum darin?
Das Key Population Programm konzentriert sich auf Hochrisikogruppen, die unverhältnismäßig stark von HIV betroffen sind, wie homosexuelle Männer, Sexarbeiter*innen, injizierende Drogenkonsument*innen, Transgender-Menschen und kürzlich hat die WHO auch Gefängnisinsass*innen einbezogen. Der Einstiegspunkt für viele Programme ist HIV. Sie werden eingesetzt, um die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung von HIV oder anderer Krankheiten wie Hepatitis C zu verringern und erreichen daher Bevölkerungsteile, die staatliche Programme meistens ignorieren, da sich diese auf die Allgemeinbevölkerung konzentrieren.
Im Fall von Kenia stellte die Regierung im Jahr 2008 auf Basis einer Studie zu den Übertragungswegen von HIV fest, dass rund ein Drittel der Infektionen auf Schlüsselgruppen zurückzuführen ist. Das war ein Weckruf für die Regierung. Anschließend implementierte sie ein nationales Programm zur Umsetzung von Schadensminderungsmaßnahmen durch das Key Populations Programm.
Welche Schritte hat Kenia unternommen, um diese Politik umzusetzen?
Die Studie aus dem Jahr 2008 hat einen Paradigmenwechsel eingeläutet hin zur Fokussierung auf Schlüsselgruppen und weg vom traditionellen Fokus auf der Allgemeinbevölkerung. Was hat Kenia gemacht? Kenia hat neue Strukturen und Strategien etabliert. Erstens hat die Regierung gemeinsam mit den relevanten Akteuren ein nationales Programm auf den Weg gebracht. Dieses Programm wurde entwickelt, um Schlüsselgruppen anzusprechen und verschiedene Maßnahmen der Schadensminderung umzusetzen, auch solche, die sich an Drogenkonsument*innen richten. Dadurch wurde erstens das Vertrauen der Gemeinschaft und der Menschen vor Ort gewonnen, die nun begannen, die angebotenen Dienste auch in Anspruch zu nehmen. Sie wussten jetzt, dass die Regierung sie unterstützt und sie nicht strafrechtlich verfolgt. Zweitens wurde eine Arbeitsgruppe etabliert. Diese brachte alle Akteure zusammen und funktioniert als Forum, in dem sich Geberorganisationen, Forscher*innen und die Menschen vor Ort austauschen können. Dadurch entstand ein Raum zur konstruktiven Interessensvertretung.
Die Zivilgesellschaft konnte sich nun für die Umsetzung von Maßnahmen zur Schadensminderung für Drogenkonsument*innen einsetzen. Die Organisationen der Zivilgesellschaft sind in jedem Land, das seine Schadensminderungsprogramme ausweiten möchte, essenziell.
Wichtig sind außerdem objektive Daten. Kenia hat ein System zur Generierung von Daten implementiert, welche dann von zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Unterstützung ihrer Programme verwendet werden. Viele Regierungen glauben nicht an den Erfolg, bis sie ihn sehen. Also ist es wichtig, den Regierungen die Daten vor Augen zu führen und zu zeigen, dass wir ein Problem haben und damit umgehen müssen.
Was waren die Resultate dieses Politikwechsels?
Die gleichen Daten wurden schließlich verwendet, um die Wirkungen der Programme zu zeigen. Es wurde deutlich, dass der Austausch von Spritzen unter Drogenkonsument*innen in einigen der Regionen, in denen Ansätze der Schadensminderung bereits früh umgesetzt wurden, zurückgegangen ist. Kenia war in der Lage, Schlüsselgruppen in der nationalen Strategie zu priorisieren. Verschiedene Regionen integrierten dies auch auf lokaler Ebene und entwickelten eigene Pläne. Das war besonders in Bezug auf die Ausweitung und Dezentralisierung der Programme ein wichtiger Schritt.
Ein weiterer relevanter Aspekt ist die politische Unterstützung durch die Einbeziehung von Regierungsvertreter*innen, Gouverneur*innen, der Gesundheits- und Innenminister*in, Parlamentarier*innen. Einige dieser Regierungsbeamt*innen besuchten Länder wie Großbritannien, Spanien, China oder Indien, die Schadensminderung erfolgreich umgesetzt haben und Best Practices teilen konnten. Innerhalb Afrikas waren insbesondere Mauritius und Tansania sehr erfolgreich in diesem Bereich und einige Parlamentarier*innen aus Kenia besuchten diese Länder und sahen, dass Schadensminderung auch im afrikanischen Kontext möglich ist. Besonders wichtig ist auch die Einbeziehung der Gemeinschaften bei der Gestaltung von Programmen und der Entwicklung von Richtlinien. Viele Gemeinschaften beteiligten sich aktiv daran. Kenia war auch erfolgreich darin, die Justiz und die Polizei einzubeziehen. Derzeit entwickelt Kenia gemeinsam mit der Polizei einen Lehrplan, um das Konzept der Schadensminderung in die Ausbildung von Polizist*innen zu integrieren.
Welche Erkenntnisse könnten andere Länder bei der Umsetzung von Schadensminderung in ihren nationalen Politiken helfen?
Advocacy muss kontinuierlich sein. Alle fünf Jahre gibt es eine Wahl, neue politische Anführer*innen kommen und es ist sehr wichtig, dass dies in den Programmen berücksichtigt wird, damit neue Regierungen von Beginn an für das Thema sensibilisiert werden können. Langfristig müssen wir eine Möglichkeit finden, Politiken der Schadensminderung nachhaltig durch Gesetzesänderungen zu integrieren. Unsere Priorität ist es, den Menschen verschiedene Angebote zur Schadensminderung zu machen, aber auf lange Sicht müssen wir nachhaltige Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass es keine Unterbrechungen gibt, wenn eine neue Regierung gewählt wurde. Wir brauchen langfristige Strategien, die sicherstellen, dass Schadensminderung Teil der medizinischen Grundversorgung ist.